Präsentismus. Aus dem Büro nebenan hörst du ein Röcheln… Du fragst dich, was da los ist und beschließt, nachzusehen. Im Raum nebenan angekommen erschrickst du vor dem, was du siehst: Ist das wirklich dein Kollege? Tiefe Augenringe, eine rote, überlaufende Nase und von der Stimme nicht mehr übrig als ein unheimliches Röcheln. Du fragst ihn vorsichtig: “Ist alles okay?”. Er bemerkt deine Anwesenheit zuerst gar nicht. Erst nach einigen Sekunden wird ihm klar, dass du direkt vor ihm stehst. “Ähh, ja!”, antwortet er nun schnell, aber wenig überzeugend. Dies, meine Damen und Herren, ist ein klassischer Fall von Präsentismus. Was das genau heißt? Das und noch einiges mehr erklären wir dir im folgenden Blogbeitrag.
Bildbeschreibung: Eine Frau sitzt im Schreibtisch am Büro, putzt sich die Nase und sieht sehr schlapp aus
Kranksein kann gesund sein
“Ein bisschen Kranksein ist manchmal ganz gesund” – das wusste auch schon der berühmte deutsche Arzt Rudolf Virchow. Krank zu sein sollte immer verstanden werden als ein Impuls, dem eigenen Körper Ruhe zu gönnen und Zeit zu geben, sich auszukurieren. Wenn wir diese Handlungsanweisung unseres Körpers befolgen, dann verbessern sich unsere Chancen, schnell wieder gesund zu werden. Beim Präsentismus allerdings werden diese Impulse des eigenen Körpers ignoriert. Mitarbeiter*innen gehen zur Arbeit, anstatt sich krank zu melden. Was die Ursachen und Folgen des Präsentismus sind, und welche Maßnahmen zur Prävention beitragen, erklären wir dir im folgenden Blogbeitrag.
Absentismus vs. Präsentismus
Präsentismus (auf Englisch: presenteeism) beschreibt zunächst den Gegensatz zum Absentismus. Absentismus kann ganz allgemein die Abwesenheit von Menschen beschreiben; in der Arbeitsforschung meint Absentismus aber meist die “Abwesenheit vom Arbeitsplatz trotz Arbeitsfähigkeit”, also die übergebührliche Inanspruchnahme eines gelben Scheins trotz blühender Gesundheit (“Krankfeiern”). Im genauen Gegensatz dazu bezeichnet Präsentismus in der Forschung die Anwesenheit am Arbeitsplatz trotz Arbeitsunfähigkeit. Gemeint ist also das Phänomen, dass mehr und mehr Menschen krank zur Arbeit gehen. Sie sind dann zwar physisch präsent, mental aber eigentlich nicht in der Lage, produktiv zu sein und ihren normalen Tätigkeiten bei der Arbeit nachzugehen. Schlimmer noch: Dadurch, dass Menschen krank zur Arbeit gehen, kann sich ihre gesundheitliche Situation verschlimmern oder gar chronisch werden. Gelegentlich meint man mit Präsentismus auch, dass (gesunde) Mitarbeiter*innen zwar physisch bei der Arbeit anwesend sind, aber aus verschiedenen Gründen nur “ihre Zeit absitzen”. D.h., sie sind unproduktiv und gelangweilt. Dies kann viele Gründe haben, wie zum Beispiel, dass der entsprechende Arbeitnehmer seine innere Kündigung bereits abgeschickt hat und für seinen jetzigen Job keine Motivation mehr aufbringen kann. Im folgenden werden allerdings vor allem die Fälle betrachtet, bei denen Angestellte krank zur Arbeit erscheinen und dadurch Produktivitätseinbußen verzeichnen.
Der so verstandene Präsentismus kann also nicht nur bei den betroffenen Angestellten für verheerende Folgen sorgen: Auch für Kolleg*innen und das Unternehmen insgesamt ist präsentistisches Verhalten von kranken Mitarbeiter*innen gefährlich. So kann eine Person, die krank zur Arbeit geht, ihr eigenes Team oder andere Menschen in und außerhalb des Unternehmens anstecken. Diese Thematik steht natürlich insbesondere seit Beginn der Corona-Krise im Fokus. Neben den Schäden für die Gesundheit sorgt Präsentismus aber auch für große Kosten für den Arbeitgeber. So konnte gezeigt werden, dass (begründeter) Absentismus, hier im Sinne von krankheitsbedingten Fehlen, Arbeitgeber nur halb so viel kostet wie die Folgeschäden von Präsentismus. D.h., selbst wenn ein Arbeitnehmer für zwei Wochen krankgeschrieben ist, dann kommt das Unternehmen dabei finanziell besser weg, als wenn Krankheiten verschleppt, Kolleg*innen angesteckt werden und Produktivitätslevel dadurch in den Keller sinken. Maar und Fricker haben eine Berechnung angestellt, der zufolge “Kosten in Höhe von ca. 2400 Euro pro Jahr und Beschäftigten […] einem Unternehmen in Deutschland durch Beschäftigte entstehen, die trotz Krankheit am Arbeitsplatz erscheinen”. Diese Kosten belaufen sich dabei auf das Doppelte der Kosten für Beschäftigte, die sich zuhause auskurieren. Unternehmen haben also sowohl gesundheitspolitische wie auch ökonomische Gründe, Präsentismus entgegenzuwirken.
Krank zur Arbeit als neuer Trend
Ein verbreitetes Vorurteil, welches gerade ältere Vorgesetzte gegenüber jüngeren Mitarbeiter*innen des Öfteren vertreten, besagt, dass letztere häufiger krank seien als sie selbst es im Laufe ihrer Berufslaufbahn gewesen seien. “Ich habe in meinem gesamten Berufsleben nur zwei oder drei Mal einen gelben Schein eingereicht, war fast nie krank. Früher ist man auch mit einem Schnupfen noch zur Arbeit gegangen, nicht wie einige Arbeitnehmer von heute!”. So oder ähnlich wird der Präsentismus der eigenen Generation oftmals gerechtfertigt. Betrachtet man allerdings die tatsächlichen Krankheitszeiten in Deutschland, so lässt sich feststellen, dass es heute zu erheblich weniger Fehlzeiten durch Krankheit kommt, als noch vor einigen Jahrzehnten. Im Rekordjahr 2006 lag der durchschnittliche Krankenstand in Deutschland bei nur 7,2 Krankentagen pro Jahr und war damit so niedrig wie seit 1970 nicht mehr. Bedeutet dies nun aber, dass die Zahl der erkrankten Arbeitnehmer*innen tatsächlich zurückgegangen ist (und die Angestellten also heutzutage eine bessere Gesundheit vorweisen können) oder erscheinen heutzutage einfach mehr Menschen krank zur Arbeit? Einerseits gab es viele positive politische Entwicklungen, wie etwa die Einführung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die zu mehr sozialer Sicherheit im Krankheitsfall beigetragen haben. Außerdem hat sich das Gesundheitsmanagement innerhalb vieler Unternehmen zum Positiven verändert. So legen Organisationen heutzutage sehr viel größeren Wert darauf, dass ihre Angestellten gesund bleiben und investieren viel in Gesundheitsprogramme. Andererseits aber ist der Begriff des Präsentismus in den vergangenen Jahren nicht umsonst zu immer mehr Bekanntheit gelangt. In ihm spiegelt sich die gesellschaftliche Situation wider, dass mehr und mehr Menschen sich offenbar dazu genötigt sehen, auch krank bei der Arbeit zu erscheinen. Welche Gründe aber gibt es dafür?
Ursachen für Präsentismus
Im Rekordjahr 2006 haben Studien ergeben, dass der Hauptgrund für die niedrigen krankheitsbedingten Fehlzeiten nicht etwa darin lag, dass Arbeitnehmer tatsächlich weniger krank waren. Vielmehr spielte die Angst, den Job zu verlieren eine so große Rolle, dass Arbeitnehmer sich schlicht nicht mehr trauten, sich krank zu melden. Die Arbeitslosenzahlen zu der Zeit waren so hoch, dass jeder Angst hatte, ihn könne es als nächstes treffen.
Im Laufe der Zeit haben sich noch einige andere Gründe für präsentistisches Verhalten herauskristallisiert. Bach und Mierke haben in ihrer Skala zur Erfassung von Motiven für Präsentismus am Arbeitsplatz (SEMPA) fünf motivationale Gründe für Präsentismus herausgearbeitet:
- Pflichtgefühl den Kolleg*innen gegenüber, weil die Arbeitsbelastungen subjektiv oder objektiv zu hoch sind; man will niemanden “hängen lassen”
- Sozialer Status und die Angst, durch Krankheit etwas von der “Stärke” einzubüßen, die verkörpert werden soll, weil Kranksein nach wie vor oft als Schwäche interpretiert wird
- Pflichtgefühl den Arbeitsaufgaben gegenüber aus Angst, dass Arbeit “liegen bleiben” könne
- Ablenkung von der Krankheit; Arbeit als Zeitvertreib, um sich nicht mit den Konsequenzen der eigenen Erkrankung auseinanderzusetzen
- Angst vor negativen Konsequenzen, wie etwa Jobverlust oder das Verlieren von bereits erarbeiteten Privilegien im Unternehmen
Quelle: Statista – Gründe für Präsentismus
In der obigen Grafik ist zu sehen, wie viele Menschen aus welcher Altersklasse der Aussage zugestimmt haben, dass sie krank zur Arbeit gegangen seien, weil sie sonst Angst um ihren Arbeitsplatz gehabt hätten. Interessant dabei ist die Verteilung in den verschiedenen Altersgruppen: 20 Prozent der 18 bis 29-Jährigen gaben an, zu viel Angst um ihren Job zu haben, wenn sie bei Krankheit zuhause blieben. Als Berufseinsteiger*innen haben sie womöglich noch nicht das nötige Selbstbewusstsein, um sich gegen die vorherrschende Präsentismus-Kultur in den Unternehmen zu wehren. In der Altersgruppe von 30 bis 39-Jährigen hingegen – den besten Jahren – sind es nur noch 15 Prozent der Befragten. Diese Altersgruppe denkt womöglich nach dem Motto: Ich bin in der Blüte meines Lebens, ich kann mich überall bewerben! Bei den 40 bis 49-Jährigen scheint dann mit 25 Prozent der Befragten allerdings wieder die Angst vor Alters-Arbeitslosigkeit einzusetzen. Ab 50 Jahren nimmt präsentistisches Verhalten dann offenbar stetig ab.
Die hier beschriebenen Motive beziehen sich zunächst auf die Innenwelt der Mitarbeitenden, die präsentistisches Verhalten an den Tag legen. In Fragebögen können diese Überzeugungen abgefragt und somit konstruktiv mit ihnen umgegangen werden. Diese individuellen Entscheidungen der Mitarbeitenden entstehen aber natürlich nicht in einem luftleeren Raum. Unternehmen können an verschiedenen Punkten ansetzen, um eine Unternehmenskultur zu erzeugen, in der Präsentismus präventiv verhindert wird. Wie diese Maßnahmen aussehen, erklären wir dir im folgenden.
Maßnahmen gegen Präsentismus
Ansetzend bei den fünf Hauptmotiven, die Bach und Mierke für präsentistisches Verhalten herausgearbeitet haben, zeigen wir im folgenden Maßnahmen auf, die bei eben diesen Motiven ansetzen. Viele Studien haben gezeigt, dass gezielte Veränderungen in der Unternehmenskultur zu weniger Präsentismus führen können. Welche das sind, erfahrt ihr nun:
- Stressprävention. Gegen die subjektive Empfindung von Überlastung einiger Angestellter kann ein Unternehmen möglicherweise nur indirekt ansteuern. Sind die Arbeitsanforderungen allerdings auch objektiv sehr hoch, sodass durchweg alle Mitarbeitenden konstant einem Dauerstress ausgesetzt sind, sollte ein Unternehmen die Notbremse anziehen. Eine bessere Verteilung der Aufgaben, transparente Zielsetzungen sowie eine Betriebliche Gesundheitsförderung können dabei wirksame Maßnahmen sowohl gegen das Pflichtgefühl gegenüber Kolleg*innen wie auch gegenüber den Arbeitsaufgaben als solchen sein.
- Verbesserung des Unternehmensklimas. Eine Organisation muss ihre Unternehmenskultur aktiv dahingehend formen, dass eine Atmosphäre der gegenseitigen Wertschätzung entsteht. Mit dem Thema Krankheit sollte eine offene Auseinandersetzung erfolgen, sodass Krankheit nicht mehr als Schwäche gefürchtet, sondern als Teil der menschlichen Existenz akzeptiert wird. Unternehmen, die ihren Mitarbeitenden etwa Benefits versprechen, wenn diese wenige Fehlzeiten vorzuweisen haben, lenken die Unternehmenskultur in die falsche Richtung.
- Transparente Kommunikation. Wenn klar ist, wer warum welche Beurteilung oder Beförderung erhalten hat, dann sind die Rahmenbedingungen für die Mitarbeitenden nachvollziehbar und verständlich. Fehlt diese offene Kommunikation allerdings, so kann die entstehende Leerstelle mit Angst vor dem Arbeitsplatzverlust oder Konkurrenz innerhalb des Teams gefüllt werden, welche wiederum Präsentismus begünstigen.
- Gerechte Arbeitsbedingungen. Dazu zählen sowohl realistische Zielsetzungen, die einer Überforderung durch Zielspiralen entgegenwirken, als auch faire Arbeitsverträge, die Existenzängste mindern.
Bist du selbst schon einmal krank zur Arbeit gegangen? Wenn ja, passierte dies häufiger? Was waren deine Gründe dafür? Wenn du mehr zum Thema Präsentismus erfahren und wissen möchtest, was du als Betroffene*r oder als Führungskraft dagegen tun kannst, dann melde dich für ein kostenloses Beratungsgespräch bei uns. In einem persönlichen Gespräch schauen wir, ob und wie wir dir weiterhelfen können.
Fatma Ismail & Hassan Ismail
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